Sexualität und körperliche Behinderung als Herausforderung in der
Sozialen Arbeit
Diplomarbeit
Die Diplomarbeit von Karin Däbritz kann hier heruntergeladen werden.
Im Anhang der Diplomarbeit befinden sich Interviews mit Matthias Vernaldi ("Sexybilities"),
Lothar Sandfort ("Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter") und Ulrike Maaßdorf (Sexualbegleiterin).
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Einleitende Worte
Sexualität körperbehinderter Menschen? Ein tabubelastetes Thema.
Erotik und Sexualität werden in unserer Vorstellung vor allem mit körperlicher Schönheit in Verbindung
gebracht. Unseren Idealvorstellungen von schönen Menschen begegnen wir tagtäglich im Fernsehen, in
Zeitschriften und auf großen Werbetafeln im Straßenbild. Diese Körper nehmen wir als harmonisch wahr,
diese Körper finden wir begehrenswert - Körper, die stets unversehrt sind!
Diese Diplomarbeit will der Frage nachgehen, woher einerseits die stark verinnerlichten Vorurteile
bezüglich der Sexualität körperbehinderter Menschen in unserem Kulturkreis rühren und wie andererseits
körperbehinderte Frauen und Männer dabei unterstützt werden können, ihren Körper trotz dieser Zuschreibungen
lustvoll wahrzunehmen und ihre sexuellen Wünsche und Bedürfnisse zu bejahen. Dabei wird der Blick vor allem
auf das Leben von Menschen gelenkt, bei denen die körperliche Behinderung auf einer prä- bzw. perinatalen
Schädigung beruht, da sich dieser Kreis körperbehinderter Menschen von früher Kindheit an mit den
gesellschaftlichen Zuschreibungen bezüglich des eigenen abweichenden Körpers konfrontiert sieht und
ihre Sozialisation sowie die Wahrnehmung des eigenen Körpers maßgeblich davon beeinflusst werden.
Ausgehend von einer Klärung des Behinderungsbegriffes aus interaktionistischer Sicht und Goffmans
Ausführungen zur Stigmatisierung sollen im 1. Kapitel vorherrschende Zuschreibungen in bezug auf
die Sexualität körperbehinderter Menschen näher beleuchtet werden. Die Autorin möchte allerdings
nicht, wie in der aktuellen Literatur zum Thema, bei der Beschreibung dieser Zuschreibungen
stehenbleiben, sondern versuchen, mit dem 2. Kapitel in einem historischen Diskurs mögliche
Hintergründe zu erfragen und zu untersuchen. So wird die Vorstellung von der Asexualität
körperbehinderter Menschen in Verbindung gebracht mit der ausgrenzenden Zurschaustellung
sogenannter "Monstrositäten" in Kuriositätenkabinetten und anatomisch-pathologischen
Sammlungen vom 17. bis ins 18. Jahrhundert hinein. Körperliche Fehlbildungen wurden von
den Gelehrten der frühen Aufklärung als Naturphänomene neben seltenen Tieren und Korallen
bestaunt. Eine Bewunderung, die allerdings auch eine deutliche Grenzziehung gegenüber den
wohlgestalteten schönen Körpern als Ausdruck der Vollkommenheit Gottes beinhaltete.
Als weiteres Stigma wird die Vorstellung von einer triebhaft überspannten Sexualität behinderter
Menschen aufgegriffen. Embryologen und Sozialdarwinisten des 19. Jahrhunderts bewerteten jedes
Abweichen eines Embryos von der menschlichen Form als ein Zurückfallen in die Tierbildung, was
im eugenischen Denken zur Vorstellung von einer "differentiellen Geburtenrate" führte, wonach
sich behinderte Menschen schneller fortpflanzen würden als Nichtbehinderte und ihnen eine sehr
fruchtbare Sexualität gegeben sei. In Verbindung mit einem tiefsitzenden Niedergangsbewusstsein
wurden behinderte Menschen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts so als Gefahr für die Zivilisation
hochstilisiert, was in den eugenischen Sterilisierungsgesetzen des Dritten Reiches mündete.
Weit verbreitet ist nicht zuletzt das Vorurteil der Abnormalität von Beziehungen behinderter
und nichtbehinderter Menschen, welches ebenfalls bis hin zum eugenischen Gedankengut und den
Ehegesundheitsgesetzen im Nationalsozialismus zurückverfolgt werden kann.
Nach der Hinterfragung dieser Zuschreibungen sollen in einem nächsten Schritt mögliche
Auswirkungen auf das Selbstverständnis körperbehinderter Menschen aus soziologischer und
sexualpädagogischer Sicht untersucht werden. Dabei wird v.a. gefragt, ob die Stigmatisierungsprozesse
Einfluss haben auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers bzw. das Sexualleben behinderter Menschen.
Dies erfolgt vor dem Hintergrund des interaktionistischen Identitäts-Modelles von Hans Peter Frey.
Im Kapitel 4 der Arbeit wird anschließend dargestellt, wie körperbehinderte Menschen begannen, das
Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität für sich einzufordern. Diese Entwicklung wird zum einen
in die Formulierung des Normalisierungsprinzips und die Selbstbestimmt Leben Bewegung der 90er Jahre
eingeordnet. Zum anderen erfolgt eine Diskussion dieser Veränderungen im
Rahmen des sexualpädagogischen Diskurses der Behindertenhilfe.
Kapitel 5 der Arbeit gilt schließlich der Erörterung von Möglichkeiten, wie sich Frauen und Männer
auch unter den erschwerten Bedingungen einer körperlichen Behinderung mit ihrer Sexualität
auseinandersetzen und ihren Körper lustvoll wahrnehmen können. Anhand von offenen Leitfaden-Interviews
als qualitative empirische Verfahren sollen drei Angebote von Sexualberatung und Sexualbegleitung in
dieser Hinsicht hinterfragt werden.
Mit dem Angebot der Sexualbegleitung wurde die Diskussion über das Für und Wider von speziellen
Angeboten für behinderte Menschen abermals aufgegriffen. Menschen mit einer Behinderung fordern
seit den 70er Jahren das Normalisierungsprinzip für sich ein, also Teilhabe an Lebensstandards und
-gepflogenheiten wie für alle anderen auch. Würde vor diesem Hintergrund die Sexualbegleitung für
behinderte Menschen als spezielle Ausbildungsprofession eine neue Besonderung und damit auch
Ausgrenzung für Menschen mit einer Behinderung bedeuten? Können die Forderungen nach einer
Kostenübernahme sexueller Dienste für schwerstbehinderte Menschen eine Akzeptanz behinderten
Lebens gefährden? Diesen Fragen wird im abschließenden 6. Kapitel nachgegangen.
Karin Däbritz (April 2005)
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